Thomas W. Gaehtgens widmet sich im Jahr, in dem sich das Ende des Krieges, der alle Kriege beenden sollte, doch zum Präludium eines blutigen Jahrhunderts wurde, zum 100. Mal jährt, einem heute weniger bekannten Moment des Weltkrieges, der sich buchstäblich wie ein Fanal in die Erzählung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ eingebrannt hat. Er schreibt über den Beschuss der Kathedrale von Reims durch deutsche Artillerie und dessen langfristige politisch-kulturelle Folgen . Gaehtgens verliert keine Zeit, deren Ausmaß zu verdeutlichen: „Die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen im September 1914 hatte verheerende Folgen. Kulturelle, wissenschaftliche und menschliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland waren von nun undenkbar“ [1] lautet sein erster Satz. Er spricht das Fehlen einer Untersuchung an, welche die Gründe für den „geistigen Zusammenbruch auf beiden Seiten“ (11), der dem Ereignis folgte, darstellt. Diese Lücke mit weniger als 300 Seiten Text und dem Verzicht auf den Abdruck von Quellen zu schließen, wird sicher nicht seine Absicht gewesen sein, und auch keine kunstgeschichtliche Abhandlung, sondern „der Ausstrahlung, vielleicht könnte man sogar sagen nach der Macht und der Ohnmacht, die ein bedeutendes Bauwerk in der Geschichte darzustellen vermag“ (19)nachzugehen. Parallel, betont er, sollen seine Ausführungen die Bedeutung von herausragenden kulturellen Monumenten für die jeweiligen Nationen hervorheben und für ihren Schutz appellieren.
„Warum diese Aktion zum Abbruch aller wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte führte statt zu einem allgemeinen Aufschrei der Deutschen und Franzosen, diesen sinnlosen Krieg zu beenden, erscheint uns heute unbegreiflich.“ (12)
Mit dieser Anklage an die Politik auf der zweite Seite der Einleitung seines Buches bediente sich Gaehtgens -seines Zeichens Kunsthistoriker, Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte, Paris, und bis 2018 Direktor des Getty Research Institute, Los Angeles – eines recht unglücklich formulierten Aufhängers für seine Ausführungen. Zwar zeigte der Krieg bereits im September 1914 für die beteiligten Staaten ernüchternde Zwischenergebnisse: die auf dem Schlieffen-Plan beruhende deutsche Operation in Nordfrankreich, die man mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien und dem daraus resultierenden Kriegseintritt des Britischen Weltreichs erkauft hatte, war durch die Schlacht an der Marne, die das Kriegsglück überraschend zu Ungunsten der Deutschen wendete, und dem anschließenden „Eingraben“ der Fronten im Stellungskrieg tatsächlich praktisch gescheitert. Zur selben Zeit war die russische Offensive in Ostpreußen von deutscher Seite gestoppt worden. Österreich-Ungarn wiederum scheiterte im September mit seinem Vorstößen auf russisches und serbisches Gebiet. Die kleineren deutschen Kolonien waren bereits von den Alliierten besetzt worden. Doch es gab in diesem Krieg noch andere Karten auszuspielen. Auch Mittelmeerraum, Schwarzes Meer und damit der Umgang mit dem zerfallenden Osmanischen Reich lagen seit dem 19. Jahrhundert im Brennpunkt der Spannungen zwischen den Großmächten. Die osmanische Führung bereitete sich seit August 1914 in „bewaffneter Neutralität“ auf Kampfhandlungen vor. Am 27. September sperrte es, mit deutscher Hilfe, Bosporus und Dardanellen für den internationalen Schiffsverkehr erzwang damit quasi eine Kriegserklärung durch Russland. Frieden wurden auch nicht gemacht, als Deutschland an beiden West- und Ostfront zwischen 1916 und 1918 keinen Meter Boden mehr gewann. Warum in diesem großem Schlachten gerade ein begrenztes lokales Ereignis, das er selbst als militärisch unerheblichen Vorgang (11) bezeichnet, die große Wende der Mentalitäten – besonders im Hinblick auf die Pressezensur im Deutschen Reich- herbeiführen sollte – diese Erklärung bleibt Gaehtgens schuldig.
Im Gang seiner Ausführungen versteht es Gaehtgens dem Leser zu vermitteln, dass Kathedrale und Stadt, die Charles de Gaulle noch 1964 als „Märtyrerstadt“ bezeichnete, einem starken Personifikationsprozess unterlagen. Romain Rolland scheint in dieser Hinsicht das stärkste Wort geprägt zu haben: „Wer dieses Werk tötet, ermordet mehr als einen Menschen, er ermordet die reinste Seele einer Rasse.“ (20) Rollands Ton, der mit der Zerstörung der Kathederale die Zerstörung aller Hoffnungen auf ein europäisches Gemeinschaftsgefühl befürchtet, spricht bedauernd über das Ereignis. Die meisten anderen Kommentatoren, die sich zu Wort meldeten, taten dies mit aufgepflanztem verbalem Bajonett. Man zitierte Papst Benedikt XV., der sich vor dem „Rückfall ins Zeitalter Attilas“ erschüttert zeigte und so den Begriff „Hunnen“ für die barbarischen Deutschen mit prägte. (70) „Der preußische Militarismus hat den Rekord des Vandalismus aller Jahrhunderte gewonnen,“ (74) hieß es in einer amerikanischen Zeitung. Vandalentum war den Deutschen schon kurz zuvor in Bezug auf die Zerstörung der belgischen Universitätsstadt Löwen etikettiert worden und gewann nach Reims in und außerhalb Frankreichs drastische Schärfe. Le Figaro, eine der beiden meinungsbildenden Tageszeitungen Frankreichs, behauptete gar, der Kaiser habe in die Kathedrale einziehen wollen, um die französische Geschichte zu verhöhnen (71) – eine Hinweis auf die nicht verwundene Ausrufung des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles 43 Jahre zuvor. So wurde die, mutmaßlich unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene, schwere Beschädigung der Kathedrale durch die Brille des verletzten Stolzes von 1871 gesehen. Im Widerschein der alten Dichotomie civilisation versus Kultur und dem unseligen Manifest der 93 sprach man dem Gegner die lang gehegte Absicht zu, die Identität des Nachbarlandes auslöschen zu wollen. Der Feind hatte sein wahres Antlitz, seine wahre Absicht gezeigt, sich entmenschlicht. Diesen Gegner niederzuringen war kein Kriegsziel mehr –sondern eine Mission im Dienste der Zivilisation. Trotz des beharrlichen Festhaltens der deutschen Heeresleitung, dass man die Kathederale aufgrund eines dort stationierten französischen Beobachtungsposten (ein Bruch der Haager Konvention zur Landkriegsführung) hätte unter Beschuss nehmen müssen. Trotz hartnäckiger Dementis der französischen Seite wird von der Existenz dieses Postens inzwischen allgemein ausgegangen. Die Beteuerungen der deutschen Seite waren jedoch zu trotzig und zu spät geäußert worden –der internationale „shit storm“ ließ sich nicht mehr eindämmen. In Deutschland reagierte man erschüttert auf den Vorwurf der Barbarei. Deutsche Publikationen relativierten den Vorwurf, in dem sie Frankreich selbst Barbarei wie die Zerstörung kirchlicher Kunst in der Revolutionszeit und die Vernachlässigung der Kirchen seit dem Laizismuserlass von 1905 vorwarfen –der französische Staat habe ja in Wahrheit gar kein Interesse an ihrer Erhaltung. Die Empörung im Fall Reims sei also heuchlerisch. So habe die französische Denkmalpflege mit dem Ausbleiben von Sicherheitsmaßnahmen gegen Beschuss total versagt, stellte Cornelius Gurlitt , (201) „Papst“ der deutschen Kunsthistoriker, fest. Tatsächlich hatte ein hölzernes Gerüst an einem der Türme, das ironischerweise zu Restaurierungszwecken aufgestellt worden, beim Beschuss Feuer gefangen und das Niederbrennen des Dachstuhls verursacht.
Dem publizistischen Sturm der Texte folgte eine haarsträubende Produktion von Bildern und Postkarten: „Mangelnde Informationen und maßlose Übertreibungen der Vorgänge waren noch die harmloseste Form der verzerrten Darstellungen, wie etwa, die Kathedrale sei völlig zerstört und läge in Schutt und Asche.“ (73)
Postkarten mit retouchierten Flammen, Abbildungen von Statuen mit manipulierten Schäden zirkulieren noch heute. Nach dem Krieg wurden Gedanken an ein „Mahnmal der deutschen Schande“ verworfen und mit der Restaurierung der Kathedrale, Meisterwerk der Gotik und als Krönungskirche der Ort, an dem die französischen Könige in Form der Salbung ihre sakrale Weihe erhielten, mit finanzieller Hilfe aus aller Welt (zu Ehren der großzügigsten Spender wurde die Straße, die zum Vorplatz der Kathederale führt, in Avenue Rockefeller unbenannt)in Angriff genommen. 1938 konnte sie wieder geweiht werden. Die Erbitterung jedoch blieb: nicht ohne Grund nahm am Ende des Zweiten Weltkriegs das Hauptquartier der Westalliierten vorübergehend seinen Sitz in Reims, wo Generaloberst Jodl am 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnen musste.
Gaehtgens schaut im Schlusskapitel ins Jahr 1962. Ein halbes Jahr vor Unterzeichnung der Élysée-Verträge besuchten Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer gemeinsam die Messe in der Kathederale. Und tatsächlich gelang es, durch diese Geste im Rahmen einer römisch-katholischen Zeremonie, unser Bildgedächtnis nachhaltig zu beeinflussen und ein Symbol der deutsch-französischen Feindschaft in das Symbol der deutsch-französischen Freundschaft umzuprägen. Zum 50. Jahrestag 2012 trafen sich Angela Merkel und François Hollande in Reims –statt zu einer Messe zu einem Chor- und Orgelkonzert. Die Zeitung L‘Union titelte „Reims, capitale franco-Allemande.“ (279)
„Warum diese Aktion zum Abbruch aller wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte führte statt zu einem allgemeinen Aufschrei der Deutschen und Franzosen, diesen sinnlosen Krieg zu beenden, erscheint uns heute unbegreiflich.“
Die Fremdheitserfahrung gegenüber der verheerenden ideologischen Verminung, welche das „Martyrium“ der Kathedrale erzeugte, lassen den nachdenklichen Leser dankbar werden, dass jene quälende Episode lediglich zum Schlusskapitel der verhängnisvollen Feindschaft zweier Länder gehört. Doch: wen umfasst denn „uns“? Wer ist „wir“? Deutschland, Frankreich, Europa oder die internationale Gemeinschaft? Haben „wir“ dazugelernt? Hat jene Videoaufnahme, welche 1993 die Zerstörung der historischen Brücke von Mostar durch kroatische Paramilitärs dokumentierte, Frieden in Bosnien-Herzegowina herbeigeführt? Hat der Aufschrei über die Zerstörung des Basars in Damaskus den Syrienkrieg beendet? Die Geschichte menschlicher Grausamkeit ist noch nicht zu Ende geschrieben worden, „unsere“ Kultiviertheit und Zivilisation sitzen weniger fest im Sattel, als Gaehtgens andeutet. Ja, illusionslos betrachtet: ihre lokale Integrität bedeutet wohl lediglich, dass der Krieg mit seinen Exzessen weit weg ist.
[1] Thomas W. Gaehtgens: Die brennende Kathedrale, München 2018, 11. Im weiteren wird auf Seiten im besprochenen Buch mit der Angabe der Seitenzahl in Klammern (…) verwiesen.