Eine „Kritik der verstehenden Vernunft“ als Grundlegung der Geisteswissenschaften?

cover_hösle (c) c.h.beck

Die Auswahl die Rezensent_Innen für ihre Leser_Innen aus der mengenmäßig kaum zu überblickende Literatur, die auf dem wissenschaftlichen Verlagsmarkt regelmäßig neu erscheint, treffen, ist oft auch von dem eigenen Erstaunen gesteuert. Wenn, wie in diesem Fall, der Betreiber dieser Seite und dieses Blogs ein fast unstillbares Interesse für Fragen der Wissenschaftstheorie der Geistes- und/oder Kulturwissenschaften und deren Erkenntnisinteresse und erkenntnistheoretischen Grundlagen hat, dann darf das Erstaunen ob dem vorliegenden Buch von Vittorio Hösle als nicht gerade gering bewertet werden.

Wenige Blicke in Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, die kürzlich bei C.H.Beck erschienen ist, macht klar, dass hier Hösle, ein Absolvent der Universität Tübingen, der als Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame (USA) einen vielversprechenden Entwurf vorlegt. Gerade auch das Betätigungsfeld des „Boris Becker der Philosophie“, wie er offen gestanden dümmlicher Weise manchmal schon genannt worden ist, bei seinem derzeitigen Arbeitgeber macht ihn zum idealen Verfasser einer Kritik, wie sie Kant nicht vorgelegt hat, aber auch nicht vorlegen konnte.[1] Seine Professur teilen sich nämlich die Fakultäten für deutsche und russische Sprache und Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft. Gleichzeitig ist ihm die Problematik der Geisteswissenschaften in die Wiege gelegt, der vor etwas mehr als eine Jahr verstorbene Vater des in Mailand geborenen Hösle war Romanist und vergleichender Literaturwissenschaftler.

Einen Punkt an dem man sich tatsächlich unnötiger Weise aufhalten kann, ist der, dass Hösle seiner Studie im Untertitel den Begriff „Geisteswissenschaften“ mitgegeben hat. In universitären Strukturen und auch in der Förderlandschaft ist der Begriff fast verschwunden zu Gunsten dem der Kulturwissenschaften. Dies hat mit einer Neubestimmung des erkenntnisbegründenden Diskursbegriffes zu tun, indem eben „Geist“ (also das hegelsche Gespenst, des „Weltgeistes“) durch einen ebenso undifferenzierten Begriff „Kultur“ ersetzt wurde. Man kann sagen, zu Gunsten der wissenschaftlichen Disziplinen, die nunmehr als Kulturwissenschaften sich verstehen, wurde der „Geist aus den Geisteswissenschaften ausgetrieben.“.[2]

Dennoch tut eine solche Kritik Not und verspricht eine reizvolle Lektüre anzubieten. Das Ergebnis der selben ist hier demnächst abrufbar.


[1] Vittorio Hösle: Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, München 2018, 13.

[2] Erinnert sei an die Formulierung des Titel des von Friedrich A. Kittler herausgegeben Sammelbandes und an dessen heute sogar gelegentlich Empörung stiftende Begründung, Friedrich A. Kittler: „Einleitung“, in: Ders., Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn [u.a.] 1980, 7–14. Im mir vorliegenden Exemplar der Bibliothek der Universität Tübingen befindet sich am Ende des Textes der Vermerk „Mystiker“ mit grünem Kugelschreiber. Man fragt sich doch immer, ob es notwendig ist, fremdes Eigentum, dass allen Benutzer_Innen nützen soll, aus so niederen Gründen beschädigt werden muss?

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