Jan Assmanns „Achsenzeit“: Nicht nur ein Stück Wissen(schaft)sgeschichte, sondern eine Teilantwort auf die Frage „Woher kommen wir?“

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Jan Assmanns Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne[1] ist zweifellos kein gewöhnliches Buch aus der Feder des Autors, der spätestens seit er mit seiner Frau Aleida Assmann 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, verdient einer breiten Öffentlichkeit bekannt sein dürfte. Gewöhnlich ist sicher ein Wort, das nur bedingt zu den Publikationen Assmanns aus den letzten 25 Jahren passen mag. Von seinem fachlichen Herkommen eigentlich Ägyptologe (em. Professor für Ägyptologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) hat er als Kulturwissenschaftler (oft gemeinsam mit Aleida Assmann, em. Prof. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz) vor allem mit seinen Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis und der damit verbundenen Erinnerungsforschung[2] neue Fragestellungen erschlossen und die Kulturwissenschaft methodisch geweitet.

Was das Buch Achsenzeit derart außergewöhnlich macht, sind die erstaunlichen Querverbindungen die Assmann in diesem Buch zieht – erstaunlich deshalb, weil sie längst auf der Hand lagen. Die Schlüsse des Autors hingegen werfen ein neues Licht auf den Themenkomplex Achsenzeit, den er mit einer persönlichen Erinnerungsgeschichte in Angriff. Mir selbst ist diese – wenn auch in abweichender Weise – vertraut: Assmann selbst lernte die Achsenzeit-These mit Hilfe einer 1955 erschienen Taschenbuchausgabe von Karl Jaspers‘ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte [3] als Obersekundaner kennen und hat diese – offensichtlich sichtbar – durchgearbeitet. Nach Jahrzehnten fiel im diese Ausgabe wieder in die Hände, nachdem er, wie er offene eingesteht, in den ersten 25 Jahren seiner Wissenschaftskarriere aus den Augen verlorgen hatte, dass dieses Buch Jaspers‘ für ihn ein Grund war sich dem Studium alter Kulturen und Sprachen zu widmen. Auch wenn ich nicht auf eine derart lange, sogar eher erst kurze wissenschaftliche Karriere zurückblicken kann, musste ich doch über den Titel des vorliegenden Buches und über Assmanns einleitende Erzählung schmunzeln. Mich selbst hat als Jugendlicher bereits die Achsenzeit-These fasziniert – allerdings ohne zu wissen, dass Karl Jaspers etwas damit zu tun haben könnte. Dies leuchtet mir selbst wohl erst im zweiten Semester einer sehr ungewöhnlichen Musikgeschichtsvorlesung an der Universität Wien ein… Doch das ist eine andere Geschichte.

Doch was macht Assmann nun in seiner rund 340 Seiten umfassenden Studie aus der Achsenzeit-These? Nach einer Einführung, die diese These umreißt, indem er zur Eröffnung die Achsenzeit neben Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit verortet (13), geht Assmann weniger dem Faszinosmus „Achsenzeit“ nach als vielmehr einer die Moderne begründenden Erinnerungsspur an eine „Epoche“ um 500 v. Chr, die sich von ihrem Ursprung in der Eisenzeit dadurch unterscheidet, dass sie mit geistigen Werkzeugen arbeite. In den Worten von Hans Joas prägen sie: „moralischer Universalismus, Transzendenzbezug, höhrere Reflexivität, Einsicht in die Symbolizität der Symbole, über das Mythische hinausgehende systematische und kritische Theoriebildung.“[4]

In den folgenden zwölf Kapitel folgt Jaspers erst an neunten Stelle. Dies muss nicht verwundern, da Assmann diesem Kapitel den größten Umfang gibt und auch mehrfach betont, dass Jaspers nie den Anspruch erhoben hätte der Erfinder der Achsenzeit-Idee zu sein. Er ist nach Assmann vielmehr der Denker, dessen „philosophsisch-phänomenologische Ausarbeitung“ diesem „Gründungsmythos der Moderne“ seine Strahlkraft verliehen hat (165), obwohl Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron  bereits 1771 eine gewissen Gleichzeitigkeit von „antiken“ Kulturen um 500 v. Chr. entdeckt hatte (28–41, erstes Kapitel).

Eine Besonderheit stellt das dritte Kaptiel „Hegel: Die Zeit wird zum Raum (1827)“ dar. Den Grund bringt Assmann selbst auf den Punkt, indem er feststellt: „[Die Geschichtstheorie Hegels] bildet den dialektischen Gegenpol der Achsenzeit-Theorie und wird dann von Jaspers auch als solcher gesehen und bekämpft.“ (55). Hier zeigt der Autor wieder einmal wie sehr er sich darauf versteht auch Unvereinbarkeiten im Rahmen einer Erinnungsgeschichte als Sinngeschichte herauszuarbeiten. Dass ihm dies dazu sogar noch anregend und unterhaltsam gelingt, zeigt welch großer Vermittler er nun einmal ist.


Obwohl dieses Buch um Zusammenzufassen reines Lesevergnügen bedeutet, ist die Materie, die Assmann sogar gelegentlich soghaft erzählt, alles andere als leicht zugänglich. Nicht jede Leser*in wird damit ihre Freude haben. Vielleicht sind manchmal die Voraussetzungen doch etwas zu hoch angelegt. Dies sollte aber sicherlich nicht von der Entdeckung des Themas und seiner nicht zu leugnenden Bedeutung für heute abschrecken.


[1] Jan Assmann: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München 2018 (im Nachfolgenden wird mit Seitenzahl in (…) im Fließtext zitiert).

[2] Als richtungsweisend ist der Aufsatz Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Ders. und Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 9–19 (= stw 724) zu betrachten. Wegweisend die Studie Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1998. Methodische Fassung gibt dem Konzept letztlich Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 (zugleich auch ihre Habilitationsschriften 1992).

[3] Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949.

[4] Hans Joas: Was ist die Achsenzeit? Eine wissenschaftliche Debatte als Diskurs über Transzendenz, Basel 2014.