Totgesagte leben… – am längsten

Buch-Cover (c) Rowohlt

Das Klischee erhält sich weiter aufrecht: die lateinische Sprache sei eine tote Sprache. Freilich muss man einräumen, dass sie nicht mehr oder kaum mehr gesprochen wird, doch unser Bildungskanon braucht sie immer noch und subkutan ist sie uns Allen in so vielen Sprachgesten eingeimpf, dass man schlicht zum Ergebnis kommen muss: wir sind alle immer noch Lateiner_Innen.

Nicola Gardini, seines Zeichens Professor für Italienisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität in Oxford, hat mit dem schönen Buch Latein lebt. Von der Schönheit einer nutzlosen Sprache, das bei Rowohlt erscheinen ist, ein Plädoyer für das Latein auf den Buchmarkt gebracht, das eben nicht nur für solche Menschen eine Wohltat sein kann, die sich dem Latein ohnehin schon verbunden fühlen, sondern gerade für solche die das liebgewohnene Märchen von der nutzlosen Sprache noch immer glauben wollen. Hier ist ein Buch für Jede_n erschienen, das schlicht Freude macht, indem es hemmungslos plaudert. Dies tut dieses Buch und mit ihm sein Verfasser auch gerne biographisch.

Entzückend ist die Episode, die Gardini über die Lateinkenntnisse seiner Mutter zu berichten weiß: Seine Mutter war dem jungen Nicola offensichtlich ein Vorbild. Sie beherrschte Gebete in lateinischer Sprache, woraus er schloß, dass sie der Sprache mächtig sei. Sie selbst hatte dazu eine deutliche Haltung. Sie wolle nicht wissen, wieviele Flüche ihr über die Lippen gegangen seien, weil sie nur nachgeplappert habe (15–16).[1] Mit Geschichten wie diesen zaubert Nicola Gardini ein süffiges Lesevergnügen aufs Papier das nach mehr verlangen will.

Ohne zu viele Informationen preis zu geben, sei auf zwei Kapitel hingewiesen. In einem spricht der Gardini über Cicero und die normative Kraft seiner Sprachkünste („Ein Himmel voller Sterne“) und im anderen über das, was sich immer am Besten verkauft hat und immer verkauften wird, nämlich Sex. Bevor man aber etwas unterstellen möchte, natürlich nur um Sex bei Catull, was freilich etwas Anderes ist. Man spricht hier schließlich von großer Literatur.

Was Nicola Gardini im Fall des Lateins, wie es Cicero niedergeschrieben hat hervorhebt, ist bemerkenswert darin, das es so simpel ist, dass man es beinahe vergisst: das literarische Latein ist eine artifizelle Sprache! (46) Bei Cicero, dessen Latein ja mithin unser heutiges Latein abgegeben hat, wird das besonders deutlich, da er schließlich auch ein herausragender Rhetoriker war. Man kann Cicero daher viel vorhalten – ja mit ihm wurden und werden Lateinlehrnende rund um die Welt bis heute gefoltert – aber er kannte seinen Quintilian (Institutio oratoria), neben dem wir auch unseren Aristoteles (Rhetorik) kennen sollten, denn dann bräuchte keiner einen Ratgeber zum Thema „richtige“ Rhetorik, wie beispielsweise Rhetoriker für Manager_Innen, Rhetorik für Lehrer_Innen und Rhetorik für Muttis und Vatis. Zumal ja dieser Aspekt nur ein Teilaspekt von dem ist, was Rhetorik bedeuten kann und soll.

Eine wahre Sublimierungswut spricht aus den Texten Catulls möchte man meinen. Einen genaueren Blick aber wagt Gardini und entdeckt einen Kosmos wieder der Ovid die Schamesröte ins Gesicht treiben könnte und von dem man sagen dürfte, dass die frivolen Schreiber der Carmina Burana hier wohl gelernt haben. Details – liebe Leser_In, da musst Du schon selbst Dich rantrauen! – sollen hier nun nicht ausgebreitet werden, denn eine Analyse der Sprache die Catull als „unflätig“ verwendet, könnte diesem Blog das Prädikat X-rated einbringen, was kontraproduktiv wäre. Man kann stellenweise schon ins Schumzeln kommen, dass dies auch im prüden 19. Jahrhundert und im Rahmen unseres versteckten Neoviktorianismus überhaupt an Schulen gelesen wurde bzw. wird.

Dieses Buch sollte sich wer Latein liebt und mit ihm vielleicht sogar jeden Tag direkt umgeht auf jeden Fall nicht entgehen lassen. Es ist ein Schmuckstück. Für alle anderen Leser_Innen gilt: keine Angst vor diesem Buch! Es könnte einzig das Unglück passieren, dass es Nicola Gardini gelingen könnte, die eine oder den anderen zum Latein zu verführen. Es wäre viel damit gewonnen, nämlich Lesevergnügen, Weitblick, Genuss und eine andere Perspektive auf das Eigene und das Fremde. Ganz im Sinne der letzten Worte des Buches: „Wagen wir einen Neuanfang – Latein lebt.“ (283)

______________________________________________________________________________________________

[1] Die in (…) gesetzten Ziffern verweisen auf die entsprechenden Seitenzahlen im Buch.

Werbung